Tigersprung der Film
Der Film:
Ernst Berliner war jüdischer Bahnradmanager aus Köln-Ehrenfeld. Nachdem er den 2. Weltkrieg versteckt in Zaandam in den Niederlanden überlebte und nach Florida auswanderte, kehrte er 1966 nach Köln zurück, um die Mörder seines Freundes, des Fliegerweltmeisters
Albert Richter
zu finden. Die Kölner Staatsanwaltschaft war nicht daran interessiert, den Fall aufzuklären.
Albert Richter, Fliegerweltmeister von 1932 und mehrfacher Deutscher Meister, war Anfang 1940, beim Versuch Deutschland in Richtung Schweiz zu verlassen, verraten und im Gestapo Gefängnis Lörrach ermordet worden. Er hatte sich zuvor stets geweigert, den Kontakt zu seinem jüdischen Manager abzubrechen, den Hitlergruß zu entrichten oder während seiner Rennen Hakenkreuz-Trikots zu tragen. Die Kölner Staatsanwaltschaft will 1966 kein Verfahren zur Aufklärung des Geschehens eröffnen. Wichtige Zeugenaussagen werden nicht berücksichtigt, eine Autopsie wird nicht durchgeführt.
Erst nach intensiven Eingaben einzelner Radsportspezialisten und langer Diskussion wurde das Kölner Velodrom Mitte der Neunzigerjahre in Albert-Richter-Bahn getauft. Der Streit um die Benennung zeigt, dass der Nazi Ausspruch: "der Name Albert Richter möge auf ewig aus unseren Reihen gelöscht sein!" noch weit in die Bundesrepublik Deutschland hineingewirkt hat.
Entstehung des Films
In der Diskussion des Videokünstlers Boaz Kaizman mit den Autoren Peter Rosenthal und Marcus Seibert entstand Ende 2014 die Idee, die Tragfähigkeit der Annäherung seiner Videoarbeiten an Kinoformate anhand eines Stoffes auszuprobieren, auf den der Autor Peter Rosenthal im Rahmen seiner Ehrenfeldrecherchen schon vor Jahren gestoßen war und der ihn seitdem nicht mehr losgelassen hatte: Die Geschichte der besonderen Freundschaft des zu Nazizeiten erfolgreichsten deutschen Bahnradfahrers Albert Richter, der am 2.1.1940 im Gestapogefängnis in Lörrach ums Leben kam und seines jüdischen Managers Ernst Berliner, der in den sechziger Jahren vergeblich versuchte, Albert Richter zu rehabilitieren.
Die drei Autoren hat gemeinschaftlich an der Geschichte von Anfang an die "Geschichte der Geschichte" interessiert. Damit gerät nicht Albert Richter, sondern der Manager Ernst Berliner in den Mittelpunkt. Peter Rosenthal hat in Prosaskizzen und fiktiven Briefen versucht sich der Sicht von Ernst Berliner, der nach zwanzigjährigem Exil aus den USA nach Köln zurückgekehrt und - das ist belegt - von ehemaligen Radsportkollegen selbst für den Tod von Albert Richter verantwortlich gemacht worden ist, literarisch zu nähern. Aus den Prosastudien von Peter Rosenthal, angereichert mit Dokumenten aus den Ermittlungsakten zum Fall Richter haben Peter Rosenthal und der Drehbuchautor Marcus Seibert ein Script entwickelt, eine durchgängige Erzählung als Off-Text, teils in Originaldokumenten, teils in erzählerischen Texten, fiktiven Briefen Ernst Berliners an seine Tochter in Miami. Eine ähnliche Textgrundlage war auch Basis der letzten Projekte von Boaz Kaizman.
Bewusst wird auf Dialoge verzichtet, um dem klassischen Duktus der Abbildung von Gesprächssituationen im Doku-Drama zu entgehen und der ästhetischen Überformung der Bilder auch im Text zu entsprechen. Durch Boaz Kaizmans besondere Montage aus found footage, Archivmaterial, Spielszenen mit Ernst Berliner (gespielt und gefilmt von Boaz Kaizman) und Verfremdungstechniken, die das Material amalgamieren, wird in diesem "experimentellen Dokumentarfilm" eine exemplarische Geschichte für den Umgang mit nationalsozialistischer Geschichtsschreibung bis Ende der sechziger Jahre erzählt.
Director's note von Boaz Kaizman
Zeichnen war und ist immer noch meine vorrangige Ausdrucksform, obwohl es immer schwieriger geworden ist, zwischen dieser und anderen Ausdrucksformen und Medien eine Trennlinie zu ziehen. Der Film Tigersprung ist als animierter Dokumentarfilm konzipiert.Das Material des Films
besteht aus Archivmaterial (online und offline), found footage und re-enactment. Der Audiotrack setzt sich zusammen aus Musik von Boaz Kaizman und dem von Jörg Ratjen im Voiceover gelesenen Text von Peter Rosenthal, bearbeitet und im Sinne eines Drehbuchs eingerichtet von Marcus Seibert.
Ich finde das entstehende digitale Zeitalter herausfordernd und aufregend und in meiner Kunst verwende ich oft digitale Techniken. Seit 2012 führe ich unter dem Titel 71gedichte ein Kunstprojekt im Internet durch, das Videoarbeiten, Animationen und andere digitale Elemente beinhaltet. 71gedichte ist ein Medienexperiment, das darauf abzielt, die Grenzen eines klassischen Ausstellungsraums zu überwinden. Ein Schritt in die Welt des Internets - virtuelle Elemente aus dem Internet werden zu Gegenständen einer Echtzeit-Ausstellung und zu einer Echtzeit-Erfahrung.
Credits
Visuelle Gestaltung - Boaz Kaizman
Drehbuch - Peter Rosenthal und Marcus Seibert
Sprecher - Jörg Ratjen
Musik - Boaz Kaizman
Tonaufnahmen - Tonstudio Krauthausen
Koproduzenten - Martina Eiting, Sibylle Hartung, Mechthild Hartmann-Schäfers, Wendel Hennen, Stefan Laskowski, Sabine Voggenreiter
Produktion - Marcus Seibert, Peter Rosenthal, Boaz Kaizman, Tigersprung GbR
Besondere Unterstützung durch Renate Franz, Roswitha Ester und Torsten Reglin (Ester.Reglin.Film), Tanja Wolff Metternich-Kaizman
Historisches Filmmaterial: Archives Gaumont Pathé, Günter Gaus: Zur Person - Hannah Arendt, Jean Améry: Der Terror aus Jenseits von Schuld und Sühne - mit freundlicher Genehmigung des Klett Cotta Verlags
Dank an
Sam Alter, Katalin Antalffy und Herbert Teufel, Ingrid Bartsch, Ralph Bodenmüller, Petra Bossinger, Jule Bürjes, Sandra Ehlermann, Anette und Johannes Esser, Susanna und Jose Fernandez Bardesio, Werner Fleischer, Janina Fleper-Burgmaier, Lisa Violetta Gaß, Marlen und Boris Gorin, Annetraut Grose, Ingrid und Michael Hallek, Margrit und Ludwig Hegge, Bernadette Heiermann und Heribert Schulmeyer, Isabell Herrero, Jules Herrmann, Robert Helming, Dunja Karabaic, Heinz Simon Keller, Erna Kiefer, Jürgen Kissner, Hanna Koller, Werner Koroschitz, Dieter Krauthausen, Monika Linden, Frederike von Lom und Thomas Schilling, Alice Maus, Susanne Mayerhofer, Christoph Merten, Petra Metzger, Jochen Mörsch, Lucca Müller, Andreas Müller-Matthey, Michael Niermann, Rolf und Marion Paffenholz, Christiane Palm-Hoffmeister, Sarah und Andre Peto-Madew, Ute und Peter Pogany-Wnendt, Jörg Ratjen, Ellen Rosenthal, Martina Rosenthal, Paula Rosenthal, Erik Schaap, Schardt Verlag, Carolin Schilling, Burkhard Schirdewahn, Gabriele Schwietering, Rosanna und Martin Spütz, St. Georges School Köln, Axel Stadtländer, Ulrich Stascheit, Stichting Joods Monument Zaanstreek, Olrik Cardinal v. Widdern, Ursula Wienecke und Jürgen Schmidt, Thomas Wiesenbart, Tanja Wolff Metternich-Kaizman
Unterstützung durch: Bilz-Stiftung, ZASS, Kentaurus, Balloni, Radfieber, Förderkreis Hochbunker Körnerstraße 101 e.V.
Gefördert mit Mitteln der Film- und Medienstiftung NRW
Eine Produktion der Tigersprung GbR © 2017